Das Meer und die Märchen
Von Ina Nefzer
Ina Nefzer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Kinder- und Jugendliteratur. Sie war Chefredakteurin der Fachzeitschrift „Eselsohr“ und des Kindermagazins „Der bunte Hund“. Heute arbeitet sie als freie Journalistin für Zeitungen, Zeitschriften und das Radio. Außerdem unterrichtet sie angehende Lehrer/innen an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
Warum erzählen sich Menschen Geschichten über das Meer?
Zwei Drittel der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt. Das ist nicht nur eine riesengroße Fläche, darunter liegt eine noch viel größere Unterwasserwelt, die bis zu 11.000 Meter tief sein kann. Dieses Wasserreich und ganz besonders die dunkle, rätselhafte Tiefsee haben bis heute viele Geheimnisse bewahrt. Faszinierend und zugleich unnahbar – so ist das Meer für uns Menschen, ähnlich wie das Weltall. Zu allen Zeiten haben verborgene Schätze und versunkene Städte, die man dort vermutete, die menschliche Fantasie angeregt. Dabei liegen Glück und Gefahr nah beieinander. Denn das Meer ist unberechenbar, eine Naturgewalt. Früher erzählten sich die Menschen sagenhafte Geschichten, zum Beispiel, dass der Meeresgott wütend sei, wenn die Wellen hoch schlugen. Sie fühlten sich dann weniger ausgeliefert.
Welche Ängste und Sehnsüchte verbindet man mit dem Meer?
Im Meer ist immer etwas los, es ist ständig in Bewegung. Unter Wasser locken Schätze und allerlei Meeresbewohner. Das ist einerseits verlockend, andererseits beängstigend. Daher gibt es viele Abenteuer- und Schauergeschichten über das Meer. In den Hauptrollen große Seefahrer und Piraten, Entdecker wie Robinson Crusoe, Ungeheuer wie die Riesenkrake oder Fabelwesen wie Meerjungfrauen und Wassermänner. Der Blick vom sicheren Strand oder Schiff aus auf die weite, ruhige Wasseroberfläche lädt hingegen zum Träumen und Pläne schmieden ein. Hier spiegeln sich eigene Gefühle und Hoffnungen.
Warum gibt es gerade in Irland und Schottland viele Geschichten, die mit dem Meer zu tun haben?
Das Meer spielt im Leben von Inselbewohnerneine große Rolle, deshalb kommt es auch in ihren Geschichten häufig vor. Iren wie Schotten stammen von den Kelten ab, deren Märchen, Sagen und Legenden von traditionellen Erzählern, bis heute in gälischer Sprache mündlich weitergegeben werden. Das Meer gilt darin als göttliches Reich, das mit Erde und Himmel, aber auch der Welt der Feen engverbunden ist. Die Kelten glaubten, dass das Meer, aber auch Flüsse und Seen von verschiedensten Göttern, Wassergeistern, Seeungeheuern und Fabelwesen bewohnt werden. Manche Schotten sind bis heute davon überzeugt, dass im Loch Ness das Ungeheuer Nessie wohnt.
Warum gibt es eigentlich Geister, Feen und andere Fabelwesen?
Fabelwesen sind der menschlichen Fantasieentsprungen. Früher gab es viel mehr Dinge, die sich Menschen nicht erklären konnten. So machten sie unsichtbare Wesen dafür verantwortlich und gaben dem Naturgeschehen eine Gestalt. Da es für die Existenz dieser Wesen natürlich keine Beweise gibt, leben sie vor allem in Geschichten weiter. Aber nicht nur: Isländer sind sich sicher, dass in ihrem Land Elfen wohnen. Daher gibt es eine Elfen-Beauftragte, die bevor ein neues Haus, eine neue Straße gebaut werden kann, die Zustimmung der Elfen einholt. Wird diese nicht gewährt, leitet man die Straße um oder baut ein Ausweichquartier für die Elfenfamilie, weil sonst häufig ein Unglück geschieht.
Was ist ein(e) Selkie?
Ein Selkie ist ein Zwischenwesen: im Wasser ist es eine Robbe, an Land kann es seine Haut ablegen und sich in einen Menschen verwandeln. Ein Selkie ist also entweder ganz Tier oder ganz Mensch und kann dann sowohl Mann als auch Frau sein. Ohne die eigene Haut, die meist am Strand zurückgelassen und versteckt wird, kann sich ein Selkie jedoch nicht zurück verwandeln. Geschichten über Robbenmenschen erzählt man sich hauptsächlich auf den Orkney und Shetland-Inseln in Schottland und an den Küsten Islands und Irlands.
Aufgaben
- Erzählt euch gegenseitig, wann und wo ihr Märchen gehört oder gelesen habt. Was gefällt euch an Märchen, was nicht?
- Überlegt, ob ihr Geschichten kennt, in denen das Meer oder ein See eine Rolle spielen.